Chronik eines Sabbatjahres

  Oberammergau – ein Dorf und seine Passion

 

 

„Man ist erleichtert, mitten in der Inflation des heutigen Regietheaters endlich einmal einen Jesus als Jesus, Pharisäer als Pharisäer, Jünger als Jünger und Magdalena als Magdalena zu erkennen.“ (Werner Spies, „Zeige deine Wunde. Hier erlebt man Überwältigung- ein Besuch der Oberammergauer Festspiele“, in: FAZaS, 29.8. 2010, S. 22).

Bei der Aufführung der Passionsspiele in Oberammergau sind nicht nur die Grundstruktur und ursprünglichen textlichen Grundlagen des Stoffes deutlich zu erkennen, sondern auch die Handlungsträger treten als das, was sie sind, in Erscheinung. Die Figuren werden nicht umgedeutet zu Verkörperungen moderner Geschöpfe in aktualisierten Zusammenhängen –anders als zum Beispiel bei der Inszenierung des „Lohengrin“ in Bayreuth (siehe „Der grüne Hügel“).

Reichhaltige Bezüge findet der Besucher der Oberammergauer Festspiele trotzdem. In Standbildern (sogenannten „Lebenden Bildern“) werden Darstellungen alttestamentarischer Szenen in die eigentliche Handlung eingeflochten. Dieses Konzept hat einerseits eine lange Tradition, bietet aber andererseits die Möglichkeit zu weitreichenden Verknüpfungen. Schon allein die farbige Gestaltung dieser „Einschübe“ ist fantasieanregend und lässt an Traumbilder denken. Auch Assoziationen mit Gemälden verschiedenster Stilrichtungen bieten sich an.

Die eigentliche Handlung beginnt (nach einem kurzen Prolog) mit dem Einzug Christi in Jerusalem; die erste Hälfte des Mysterienspiels endet mit der Verhaftung auf dem Ölberg. Erst nach einer längeren Pause wird der zweite Teil, also die eigentliche Passion, in den Abendstunden aufgeführt. Das ganze Schauspiel dauert etwa zweimal zweieinhalb Stunden – was nicht gerade wenig ist.

Mit am beeindruckensten sind die Massenszenen. Wenn mehrere hundert Menschen lautstark ihrem Erlöser zujubeln, kurze Zeit später aber „Kreuzigt ihn“ in den Nachthimmel schreien, dann ist eine Gänsehaut garantiert. Die Intensität dieser Momente lässt sich nicht in Worte fassen. Auch die Darstellung der eigentlichen Passion Christi, inklusive Verspottung, Geißelung und Kreuzigung hat eine unbeschreibliche Wucht. Es muss nicht literweise Blut fließen, wie bei Mel Gibsons Passion Christi, um zu schockieren. Wer erleben will, welch andere Qualität eine Bühnendarstellung im Gegensatz zu einem Kinofilm hat, der wird in Oberammergau nicht enttäuscht.

Eine wichtige Rolle spielt bei dem Ganzen die Musik. Das kompositorische Grundmaterial stammt von einem gewissen Rochus Dedler (1779-1822), und erinnert stark an Haydn und Mozart. Diese Grundlage wurde im Laufe der Zeit vorsichtig erweitert (u.a. was die Blasinstrumente betrifft; hier macht sich eine Berührung mit Wagner und Bayreuth bemerkbar). Die stärksten musikalischen Momente sind die, wenn sich - ganz in der Tradition des griechischen Theaters - der Chor in langer Reihe kommentierend aufbaut.

Überraschend ist dabei die klangliche Qualität. Handelt es sich bei der Passionsdarstellung in Oberammergau nicht um ein Laienspiel, das aufgrund eines Pestgelübtes aus dem Jahr 1633 von der Dorfbevölkerung alle zehn Jahre aufgeführt wird?! Von Laienhaftigkeit ist allerdings kaum etwas zu merken, weder bei der musikalischen Gestaltung (tatsächlich wird das Orchester der Dorfbewohner nur durch wenige „Spezialisten“ aus dem bayerischen Umland ergänzt), noch bei der sprachlichen oder schauspielerischen Umsetzung. Sicherlich, manches könnte etwas differenzierter ausfallen, mancher Vortrag ist etwas zu dick aufgetragen – aber das fällt im Gesamten kaum ins Gewicht.

Entscheidend ist viel mehr, mit welch deutlich spürbaren Engagement,um nicht zu sagen, mit welcher inneren Begeisterung das Spiel auf die Bühne gebracht wird. Über die Hälfte der Dorfbevölkerung ist daran beteiligt – was das für die Dorfgemeinschaft bedeuten mag, kann man als Außenstehender nur erahnen. Viele der Mitwirkenden nehmen sich in dem Jahr der Vorbereitung eine berufliche Auszeit oder unterbrechen ihre Ausbildung. Schon alleine das ist bemerkenswert – und verdient Respekt.

Ein solches Schauspiel bedarf keiner gewollten „Modernisierung“. Und ist trotzdem nicht frei von zeitgemäßen Anpassungen, die allerdings wohldosiert und durchdacht daherkommen. Seien es die modernen, farbenfrohen, in ihrer Zuordnung aber immer eindeutigen Kostüme, sei es die Ergänzung der Musik durch Neukompositionen von Markus Zwink, die Revidierung antisemitisch interpretierbarer Textstellen oder die differenziertere Ausgestaltung der tragischen Rolle des Judas – Entwicklungen gab und gibt es auch in Oberammergau. Eine nicht unwesentliche Neuerung ist die Verschiebung der zweiten Aufführungshälfte in den Abend. Nicht nur, dass so die Farben der Kostüme und Kulissen noch einmal ganz anders wirken- auch die Erlebnisfähigkeit des Menschen ist ja bekanntlich in den dunklen Stunden des Tages eine andere. 

Alle Veränderungen tasten den grundsätzlichen Charakter des Ganzen nicht an. Und das ist vermutlich das Bemerkenswerteste an diesen Passionsspielen: Dass sich alles letztlich der zugrunde liegenden, ursprünglichen Idee unterordnet. Dem Zuschauer wird kein nachträglicher Bezug zur Gegenwart aufgezwungen. Es steht ihm frei, das Geschaute unverstellt zu erleben – die Möglichkeit der Überwältigung eingeschlossen.

 

 

Die Passionsspiele in Oberammergau werden das nächste Mal wieder im Jahr 2020 aufgeführt.

 

Mit 40... hat man noch Träume | klio@nexgo.de